Was ward nicht alles über das Schlaraffenland geschrieben: Gebratene Tauben fliegen durch die Luft! Seen aus Milch und Honig! Aber nur die wenigsten wissen, wie es einst entstanden ist. Es war vor vielen, vielen Jahrhunderten, als die Bewohner einer ganzen Grafschaft auf der Flucht vor wilden Reiterscharen aus dem Osten waren. Eines Tages gelangten sie zu einem abgelegenen Talkessel mit herrlichem klarem Wasser und saftigen grünen Wiesen. Hier beschloss der Graf sich mit seinen Untertanen niederzulassen. Als er dann eines Tagen auf Erkundungsritt war, befreite er einen alten mächtigen Dämon aus einem antiken Krug. Starke magische Mächte zwangen den Dämon, seinem Befreier einen Wunsch zu erfüllen, so wie es der alte Brauch will.
Da der Graf die Hungerszeiten auf der Flucht nicht vergessen konnte, war sein sehnlichster Wunsch, dass in seiner Grafschaft niemals wieder jemand Hunger leiden möge, solange er oder einer seiner Nachkommen am Leben sei.
Nun hätte es zur Erfüllung des Wunsches gereicht, die Kühe, Hühner und Ziegen besonders fett werden zu lassen und das Getreide besonders ergiebig und jedermann wäre stets satt geworden. Aber der listige Dämon wollte dafür sorgen, dass die Bewohner fett und träge wurden. So dass die Linie des Grafen schnell aussterben möge.
Also wurde das bekannte Schlaraffenland gestaltet, mit essbaren Hügeln aus Pudding, mit den bekannten fliegenden Tauben und leckeren Torten zu jeder Tag- und Nachtzeit. Seine Rechnung ging soweit auf, dass die Bewohner tatsächlich immer rundlicher wurden, da den ganzen Tag nur noch gegessen wurde. Auch wurden sie immer träger, jede Bewegung fiel ihnen schwer. So lagen sie meist unter den schattenspendenden Bäumen und warteten, bis ihr Magen wieder etwas Platz für weitere Leckereien hatte. Nur die Familie des Grafen tat ihm nicht den Gefallen, einfach auszusterben. Stets wurde ein Sohn oder eine Tochter geboren, um die Linie zu erhalten. Da sich trotz der Abgeschiedenheit des Tales gelegentlich Wanderer oder Flüchtlinge dorthin verirrten, fand sich so immer ein Ehepartner, der noch nicht der Lethargie verfallen war.
So vergingen die Jahre, die Jahrzehnte, die Jahrhunderte. Und wieder war das Jahr fast herum, es war kurz vor Weihnachten. Dieses Fest hatte für die Bewohner des Tales schon lange keine Bedeutung mehr. Konnten sie doch das ganze Jahr Gänsebraten, Forellen, Karpfen oder Lammbraten und auch Lebkuchen und Marzipan zu sich nehmen.
Das Schmücken eines Baumes, das Austauschen von Geschenken wurde schon seit längerem nicht mehr durchgeführt, da die Menschen dafür zu bequem geworden waren.
Doch es ergab sich, dass der regierende Graf in ein Fieber verfiel und in einen traumähnlichen Schlaf versank. Der Dämon sah das Ende der Knechtschaft für gekommen und stellte die magische Versorgung ein. Die Puddinghügel wurden wieder normale grasbewachsene Erdhügel und der See führte nur noch sein klares Gebirgswasser mit sich. Die fliegenden gebratenen Tauben blieben aus und auch die anderen leckeren Speisen verschwanden. Die hilflosen Bewohner durchstreiften verzweifelt das Land nach Essbarem. In einer Vorratskammer des Dämonen, der hier das Essen durch seine Helfer bereiten ließ, fanden sich noch viele Säcke mit getrockneten Erbsen und Kartoffeln. Rinderhälften und Speckschwarten hingen von der Decke. Da aber keiner mehr die Kunst des Kochens beherrschte, wankten sie enttäuscht zurück.
Da ward es just am Weihnachtstag, dass ein junges Mädchen sich in das Tal der Schlaraffen verirrte. Verwundert betrachtete sie all die beleibten Menschen, die teilnahmslos unter Bäumen lagen. Vom Hunger getrieben, kam sie ebenfalls in die Vorratskammer und begann sofort, sich eine schöne dicke Erbsensuppe mit Kartoffeln, Speck und Rindfleisch zu kochen. Der herrliche Duft stieg auf und erfüllte schließlich das ganze Tal. Als die Bewohner dieses rochen, erhoben sie sich und begaben sich zur Quelle dieses köstlichen Geruches. "Ihr habt auch alle Hunger?", fragte sie mitleidig und begann sofort damit, die Suppe auszuteilen. Und schon setzte sie weitere Kessel auf und kochte noch mehr von der schönen Erbsensuppe, so dass jedermann sich satt essen konnte. Was war das für ein Speisen und Schmausen! Die verwöhnten Gaumen labten sich an diesem ungewohnten Hochgenuss.
Der köstliche Geruch drang auch in das Schloss des Grafen, der davon aus seinem tiefen Schlaf erwachte und sofort zu dem Mädchen eilte. Auch er kostete von der Suppe und preiste das Mädchen in den höchsten Tönen. "Ihr müsst nicht mir danken, hoher Herr", antwortete diese. "Wäre nicht an diesem Weihnachtstage ein heller Stern über dem Tal aufgegangen, hätte ich dieses nie gefunden!" Da sanken der Graf und seine Untertanen auf die Knie und schickten ein Dankesgebet gen Himmel.
Danach rief der Graf: "Und lasset uns diesen falschen Lebenswandel beenden! Dämon, du bist frei, deine Knechtschaft ist mit diesem Weihnachtsfeste beendet! Fortan lasset uns die Gaben dieses Tales nutzen. Die Früchte der Bäume und der Sträucher und die Fische des Sees. Säet Getreide aus, weidet das Vieh, das es dick und fett gemästet werde."
Und so war es das Ende des Schlaraffenlandes, wie es jedermann aus den Sagen und Erzählungen kennt. Aber dafür ward den Bewohnern an diesem Weihnachtstage ein neues, erfülltes Leben geschenkt.
Und der Graf? Wie es sich für eine schöne Geschichte gehört, hatte er sich unsterblich in das junge Mädchen verliebt. Die beiden lebten fortan glücklich und zufrieden auf dem Schloss und genossen noch manchen Teller Erbsensuppe, die ab sofort an jedem Weihnachtsfest gekocht wurde.
© Max Hohenstein, Chronist von Wulferisbuttle
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