Eine tragische Liebesgeschichte aus dem 12. Jh. (3)
in drei Teilen
Tut mir leid, meine Lieben, ihr habt alle auf das Ende der Geschichte gewartet. Ich lag krank darnieder. Aber jetzt kommt alles in voller Länge und es klafft kein Loch im Tagblatt.
Nach dem Überfall und der Verstümmelung Abaelards - wir wissen nicht, ob es sich um eine Penektomie oder Kastration handelte - war er physisch und psychisch gebrochen. Sein Körper verweiblichte. Vier Jahre lang war nichts von ihm zu hören. Er legte sein Ordensgelübde im Reichskloster Saint-Denis nördlich von Paris erst nach dieser Zeit ab. Bei Abaelard ist es keine Berufung, die ihn dazu motiviert, ins Kloster zu gehen, sondern eher die Scham.
Trotz seiner Demütigung vertrat Abaelard in seinen Schriften weiterhin viele Jahrhunderte vor der Aufklärung den Primat der Vernunft nicht nur in der Philosophie, sondern auch in Glaubensfragen. So kam es zu Koflikten zwischen ihm und Bernhard von Clairvaux. Dieser beschuldigte Abaelard der Härisie. Man warf ihm vor, die Existenz von drei Göttern zu postulieren. Dieser Vorwurf führte letztlich dazu, dass Abaelard auf dem Konzil von Soissons im Jahr 1121 seine Schrift "Theologia Summi Boni" eigenhändig verbrennen mußte. Danach sperrte man ihn ins Benediktinerkloster Saint-Médard in Soissons. Für den Verurteilten war diese Schmach nach seinen eigenen Aussagen schlimmer als seine Entmannung.
Heloisa blieb weiterhin im Kloster und wurde, wie Abaelard es von ihr wünschte, Nonne. Eine unglückliche Nonne, die ihr ganzes Leben hindurch von der kurzen, aber so glücklichen Zeit mit ihrem Geliebten träumte: "Die Liebesfreuden, die wir zusammen genossen, sie brachten so viel beseligende Süße, ich kann sie nicht verwerfen, ich kann sie kaum aus meinen Gedanken verdrängen. Ich kann gehen, wohin ich will, immer tanzen die lockenden Bilder vor meinen Augen. Nicht einmal mein Schlaf ist sicher vor solchen Trugbildern. Sogar mitten im Hochamt drängen sich diese wollüstigen Phantasiegebilde vor und fangen meine arme, arme Seele so ganz und gar; aus reinem Herzen sollte ich beten, statt dessen verspüre ich die Reizungen meiner Sinnlichkeit. Ich kann nicht aufseufzen - und müßte es doch -, daß ich die Sünden begangen, ich kann nur seufzen, daß sie vergangen." (Abaelard in 'Historia calamitatem')
Im Jahre 1129, Heloisa war zur Priorin aufgestiegen, mußte sie mit ihren Nonnen von heute auf morgen auf Befehl des Abtes von St. Denis das Kloster verlassen.
1135 erfuhr Abaelard von ihrem Schicksal und meldete sich nach sechzehn Jahren Schweigen zum erstenmal wieder bei Heloisa, um ihr und ihren Schwestern sein Bethaus Paraklet mit dem dazugehörigen Besitz zu übereignen. Nach dieser Trennungszeit begann ein Briefwechsel zwischen den beiden, der sehr lesenswert ist.
Anlaß für Heloises ersten Brief ist angeblich, daß sie zufällig die 'Historia calamitatem' in die Hände bekam.
Heloisa, die nie Nonne werden wollte und sich um ihr Leben betrogen fühlte, sparte nicht mit Vorwürfen ihm gegenüber. Aber auch ihre sexuellen Wünsche, ihre Sehnsüchte nach dem Mann, den sie in all den Jahren zu lieben nicht aufgehört hatte, füllten die Briefseiten. Auf Drängen Heloisas kam es schließlich auch zu Begegnungen zwischen den beiden. Aber es konnte niemals so werden wie zuvor!
Sie schrieb:
"Ihrem Herrn, ja vielmehr Vater; ihrem Gatten, vielmehr Bruder - seine Magd, nein, seine Tochter; seine Gattin, nein, seine Schwester; ihrem Abaelard - Héloïsa
Den Brief, den Ihr einem Freund zum Trost geschickt, innig geliebter Mann, hat man vor kurzem durch einen Zufall mir überbracht. Da ich ihn sogleich schon nach dem Briefkopf als Euren betrachtete, begann ich ihn um so leidenschaftlicher zu lesen, je lieber ich den Verfasser selbst umarmen mag, damit mich der, dessen Nähe ich verlor, wenigstens mit Worten - sozusagen seinem Abbild - erquicke."
Sie beklagt sich, daß Abaelard ihr nie geschrieben habe. Sie stellt die ernsthaftig seiner Liebe in Frage:
"Gott sei Dank, daß du wenigstens auf diese Weise uns deine Gegenwart schenken kannst, ohne dich von Mißgunst abhalten, ohne dich von einer Schwierigkeit hindern, ohne dich - ich beschwöre dich - von Gleichgültigkeit lahmen zu lassen! Dem Freund hast du in einem ausführlichen Brief zum Trost statt über seine Bedrängnisse über deine geschrieben. Während du aber, deine Bedrängnisse sorgfältig schildernd, seinen Trost anstrebtest, hast du unsere Trostlosigkeit aufs äußerste gesteigert, und während du seine Wunden zu heilen dich bestrebtest, hast du uns neue schmerzliche Wunden geschlagen und die alten noch vertieft. Heile nun, ich bitte dich, was du selbst angerichtet hast, der du, was andre angerichtet haben, gutzumachen bemüht bist! Deinem Freund und Genossen hast du Genüge getan und hast deine Verpflichtung zur Freundschaft und Brüderlichkeit eingelöst: uns gegenüber jedoch hast du dich mit einer noch größeren Verpflichtung gebunden; denn wir dürfen uns nicht bloß deine Freundinnen, sondern deine Herzensfreundinnen, nicht deine Genossinnen, vielmehr deine Töchter nennen,.."
Abaelards Antwort ist wie eine kalte Dusche: Er habe bei ihrer "Verständigkeit, auf die [er] allezeit große Stücke gehalten habe", nicht geglaubt, sie habe einen Brief von ihm nötig. Sie könne sich aber gerne an ihn wenden, wenn sie theologische Fachfragen habe.
Auf Drängen Heloisas kam es schließlich auch zu Begegnungen zwischen den beiden. Aber es konnte niemals so werden wie zuvor!
Vielleicht wollte er sie bewahren vor den theologischen Auseinandersetzungen, in die er verstrickt war zwischen den konservativen Kräften der Dominikaner in Gestalt von Bernhard von Clairvaux und der Reformbewegung in Cluny, bzw. der späteren Franziskaner. Sie wäre vielleicht auch der Häresie bezichtigt worden.
Es ist schwer für einen heutigen Menschen sich dies vorzustellen, weil die Vernunft und die Logik für uns über allem stehen. Abaelard aber war der Erste als Professor für Logik und Griechisch, der dies betonte.
Umberto Eco stellt in seinem Buch "Im Namen der Rose", der dann von Jean-Jacques Annaud mit Sean Connery als Franziskaner und Murray F. Abraham als seinem domikanischen Gegenspieler verfilmt wurde, diesen Konflikt verpackt in eine Kriminalgeschichte dar. Es geht um Wahrheit kontra Dogma. Erwächst der Glaube aus der Suche nach Wahrheit oder aus der Furcht vor dem Teufel? Der sogenannte Nominalismus-Streit endet mit der Reformation Martin Luthers und mit den Philosophen der Aufklärung.
Hier einige Zitate aus Abaelard Schriften, die für unsere Ohren sehr modern klingen. Man würde sie für Zitate eines Philosophen der Auklärung (des 18. Jh.) halten und nicht schon für Worte aus dem 12. Jh.:
Denn dies wird ja als der erste Schlüssel zur Weisheit bestimmt: das beständige und häufige Fragen.
Quelle : »Sic et non«
Durch Zweifeln kommen wir nämlich zur Untersuchung; in der Untersuchung erfassen wir die Wahrheit.
Quelle : »Sic et non«
Und an anderer Stelle:
Der erste Schlüssel zur Wahrheit liegt in häufigem und unermüdlichem Fragen. Denn durch Diskrimination (= Unterscheidung) gelangen wir zur Selbstbefragung, und durch die Frage nach unserem wirklichen Wesen gelangen wir zur Wahrheit...
Man muß wissen, daß Stoff und Form immer miteinander verbunden zugleich existieren, daß die Vernunft des Geistes aber die Kraft hat, bald nur den Stoff für sich, bald nur die Form, bald beide verbunden zu betrachten.
Quelle : »Logica ingredientibus«
Eine Erkrankung zwang ihn dazu, im Kloster Cluny unter der Obhut des Freundes und Großabts Petrus Venerabilis Zuflucht zu suchen. Dieser erreichte noch eine formelle Aussöhnung zwischen Abaelard und Bernhard von Clairvaux, wonach Abaelard im Konvent von Cluny verbleiben konnte. Abaelard verbrachte die Monate bis zu seinem Tod am 21. April 1142 im Cluniazenserpriorat Saint-Marcel bei Chalon-sur-Saône.
Nach seinem Tod kam es zu einem Briefwechsel zwischen Petrus Venerabilis, dem Großabt von Cluny und Gegner des 1. Kreuzzuges, Initiator der Übersetzung des Korans vom Arabischen ins Lateinische, und Heloise
Er schrieb ihr mit folgender Anrede: "Seiner verehrungswürdigen und in Christo vielgeliebten Schwester, der Äbtissin Heloïsa, ihr Bruder Petrus, demütiger Abt der Cluniazenser: Das Heil, das Gott denen verspricht, die ihn lieben!" und lobte ihre Gelehrsamkeit: "Ich hörte damals, dass Du als Frau - obwohl von den Verwicklungen der Welt noch nicht gelöst - Dich dennoch der Geisteswissenschaft, was höchst selten ist, d.h. der klassischen Philosophie, intensiv gewidmet hast und Dich weder von den Vergnügungen und Albernheiten, noch von den Verlockungen der Welt, von diesem sinnvollen Vorhaben, die Wissenschaften zu erlernen, hast abhalten lassen. Währenddessen hast Du, indem Du jenes Studium hochhieltest, alle Frauen hinter Dich gelassen und fast alle Männer übertroffen.....
Dies, liebste Schwester im Herrn, sage ich wahrhaftig nicht, um Dir zu schmeicheln, sondern um Dich aufzumuntern, das große Gut, auf dem Du eine ganze Weile fest beharrt hast, zu achten und mutiger zu werden, es zu hüten und zu wahren, damit Du auch jene heiligen Frauen, die mit Dir Gott dienen, nach der von Gott Dir zugeteilten Gnade gleichermaßen durchs Wort.." Er vergleicht sie mit der Richterin Deborah und mit Penthesilea, der Amazonenkönigin, die beide für die Wahrheit und Gerechtigkeit in die Schlacht gezogen sind. Welche Verehrung eines Mönchs für eine Nonne!
Sie antwortet "Ihrem hochverehrten Herrn und Vater Peter, dem ehrwürdigen Abt der Cluniazenser, Heloïsa, seine und des Herrn demütige Magd: Den Geist heilsamer Gnade!
Es hat uns die Gnade Eurer Wertschätzung besucht, und damit auch das Erbarmen des Herrn. Wir sagen Dir, gütigster Vater, herzlichen Dank und preisen die Tatsache, dass Eure Größe sich zu unserer Winzigkeit herabgelassen hat.
Euer Besuch ist freilich etwas Großes und ein Lobpreis für jeden großen Herrn. Manch anderer weiß, wie viel Nutzen ihm die Gegenwart Eurer Erhabenheit gebracht hat. Ich sage dies sicher nicht, um es in Worte zu fassen, ja ich habe es noch nicht einmal gedanklich durchdrungen, wie nutzbringend, wie angenehm mir Euer Eintreffen war.
Auch hat sich Eure erhabene Demut nicht entblößt, mir selbst, die ich nicht einmal des Namens Magd würdig bin, durch Schrift wie durch Wort den Titel Schwester zu verleihen. Vielmehr habt Ihr mir ein einzigartiges Zeichen Eurer aufrichtigen Liebe geschenkt: Dreißig Seelenmessen, die nach meinem Tod der Konvent von Cluny einzulösen hat. Ihr habt mir auch angekündigt, dass Ihr dieses Geschenk zur Bekräftigung mit Eurem Siegel und Schriftzug versehen werdet. Wärt Ihr auch so freundlich, mir ein anderes versiegeltes Schreiben zu schicken, welches als offenes Schreiben die Lossprechung unseres Meisters (gemeint ist hier Abaelard) enthält, damit es an seinem Grab befestigt werde? Gedenkt bitte in der Liebe zu Gott und zu mir Eures Astralabius (hier ist der gemeinsame Sohn von Abaelard und Heloise gemeint, dessen Pate Venerabilis war): Bitte besorgt ihm eine Pfründe, entweder vom Bischof in Paris oder von einem anderen Ortsbischof. Lebt wohl, der Herr beschütze Euch und gewähre uns irgendwann in der Zukunft erneut Eure Gegenwart."
Petrus Venerabilis antwortet ihr:
"Unserer verehrten und allerteuersten Schwester und Magd Gottes, Heloïsa, der Leiterin und Lehrerin der Mägde Gottes, ihr Bruder Petrus, demütiger Abt der Cluniazenser: Die Fülle des göttlichen Heiles und unserer Liebe, in Christus!"
(Huh - das ist eine Anrede! - Heute wird nur der Papst mit "seine Heiligkeit" angesprochen. Petrus tut es gegenüber einer Frau, die als Priorin seinem Kloster unterstand. Huch, welcher Chef würde seine Mitarbeiterin mit "Ihre Heiligkeit" anreden?!)
Jetzt kommt der Dank für die Einladung, sie zu besuchen:
"Ich war voller Freude - und das nicht gering -, als ich den Brief Eurer Heiligkeit las, aus welchem ich ersehen konnte, dass mein Treffen mit Euch nicht vorübergehend war. So bin ich zur Auffassung gelangt, dass ich nicht nur bei Euch weilen durfte, sondern dass ich Euch zu keinem Zeitpunkt mehr verlassen habe. Wie ich sehe, war jener gastliche Aufenthalt bei Euch nicht wie das flüchtiges Erinnern an den Gast einer einzigen vorübergehenden Nacht, und ich wurde bei Euch nicht zum bloßen Ankömmling oder Fremden, sondern zum Mitbewohner heiliger Frauen und hoffentlich zum Hausfreund Gottes. So ist alles Eurer heiligen Gesinnung verhaftet geblieben, prägte sich alles Eurem gütigen Geist ein, was ich in jenem flüchtigen und eiligen Treffen gesagt und getan habe - so dass nichts von dem, was ich voll Eifer damals vorbrachte, ja nicht einmal ein beiläufiges Wort, quasi zu Boden fallen konnte."
Diese Menschen haben noch Briefe geschrieben, nichts mit SMS im Telegrammstil. Ich habe den Brief schon gekürzt!
Nun kommen wir zur Bitte um Absolution für den schon verstorbenden Abaelard und die Versorgung ihres Sohnes, der ja durch beide Elternteile adliger Herkunft war:
"Deshalb schicke ich Euch das Geschenk, das ich Euch mit den dreißig Seelenmessen als Anwesender gemacht habe, jetzt als Abwesender, entsprechend Eurem Wunsch, mit Brief und Siegel. Ich schicke Euch auch, wie verlangt, den Absolutionsspruch für Meister Peter, gleichermaßen auf eine Karte geschrieben und gesiegelt. Ich werde mich gerne bemühen, für Euren Astralabius, der um Euretwillen auch der unsere ist, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit in einer der namhaften Kirchen eine Pfründe zu erwerben. Allerdings ist dieses Vorhaben schwierig, weil die Bischöfe - wie ich schon oft feststellen konnte - sich aus verschiedenen Gründen als sehr unzugänglich zu erweisen pflegen, wenn es darum geht, an ihren Kirchen Pfründe zu vergeben. Dennoch gebe ich mir um Euretwillen Mühe, so gut und so bald ich es vermag."
Jetzt habt Ihr einen kleinen Eindruck davon, wie sich vornehme, gebildete mittelalterliche Menschen des 12. Jh. auszudrücken pflegten.
Wie haben sich unsere Sprache und unsere Umgangsformen verändert...
Erst 22 Jahre später, im Jahr 1164, starb dort auch Heloisa nach einer langen Zeit als anerkannte Ordensleiterin. Sie wurde neben ihrem geliebten Abaelard in der Kapelle Petit Moustier begraben.
Während der französischen Revolution ergab sich nochmals eine Odyssee des Paares. Nachdem das Kloster 1792 in der Zeit der Französischen Revolution geschlossen und fast restlos zerstört worden war, wurde 1817 zu Ehren Heloisas und Abaelards auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise ein neugotisches Grabmal, in das man die spärlichen Überreste ihrer Leichname verbracht hatte, errichtet.