Ausgabe 207 | Seite 1 3. Juli 2011 AD
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DingDong, die Hex´ist tot.

... ein Nachruf!

Diese folgenden Zeilen drücken weder Freude über den Tod eines Menschen aus, noch sollen sie in irgendeiner Weise Pietät- oder Geschmacklos sein.

Sie stehen für die berühmten beiden Seiten einer Medallie und stellen den Tod eines Menschen, beispielsweise der kindlichen Freude über einen unerwartet kurzen Schultag gegenüber.

Der Autor bewältigt damit einhergehende Erinnerungen und dergleichen auf die ihm eigene Weise. Die Leserschaft möge darüber befinden wie sie es denn möchte, gerne steht der Autor auch scheinheiligen oder wie auch immer kritischen Tauben Rede und Antwort!

Manchmal benötigt es nicht viel, um einen in längst vergessen geglaubte Zeiten und Situationen zurückzuversetzen.
Freitagabend war einer dieser Momente, als ich, in dessen Verlauf, eine SMS von einem ehemaligen Klassenkameraden erhielt.
"Du wirst es nicht für möglich halten, aber Frau Nachschlag ist tot, starb in der Schulküche!"

Schwupp war ich aus der Runde, in welcher ich mich befand, wie ausgeblendet.
Ich stand wieder als kleiner Junge vor der Essensausgabe der Grundschule, drückte meine rotzige Nase an das Glas vor den riesigen Essenspötten und starrte fasziniert und ehrfürchtig die Frau auf der anderen Seite des Glases an.

Das waren die guten Tage, an denen man mit etwas mehr Selbstvertrauen in die große Pause ging. An den überwiegenderen Tagen jedoch, bedingt auch durch die überwiegende Tagesform von Frau Nachschlag, stand man ängstlich in der Schlange und wartete bis man an die Reihe kam. Eigentlich wollte man nur weg, doch der Hunger siegte meist dumpf grollend.

Frau Nachschlag war optisch eine fleischgewordene Hexe aus dem Bilderbuch.
Sie wohnte in einem abgelegenen alten Haus am Rande der Stadt, umgeben von einem verwilderten, mit allerlei Unrat und verrostetem Zierrat übersähten Vorgarten, welcher obendrein von einem alten gusseisernen Zaun umring wurde.

Frau Nachschlags dünnes blond-gelbliches Haar hing stets in fettigen Strähnen herab, ließ so ihr ohnehin schmales und eingefallenes Gesicht noch schmaler und eingefallener wirken, speziell wenn sie noch ein schwarzes Großmutter-Kopftuch trug.
Ihre blassen Augen waren unheimlich, drohten aus den Höhlen zu fallen, fahl und ausdruckslos ward ihr Blick.
Wie gesagt, wir alle starrten sie an, natürlich nur, wenn sie uns nicht anblickte bzw ihr Blick nicht in unsere Richtung ging und einen uns unbekannten Punkt in weiter Ferne fixierte.

Ihre grünliche Haut spannte sich ledern über mehr als deutlich hervortretende Knochen, zahlreiche dunkelbraune und haarige Muttermale zierten ihre dünnen Arme. Selbst mit unseren kleinen Kinderhänden hätten wir ihre Oberarme zu umgreifen vermocht.
Sie trug stets die gleichen Klamotten, oder sie hatte mehrer gleiche, mit exakt den gleichen Flecken an exakt den gleichen Stellen. Ihre dünnen Beine, kaum dicker als ein Oberarm, steckten in riesigen, klobigen und schweren schwarzen Stiefeln, welche ihre ganze Erscheinung endgültig ins Absurde zerrten.
Wir Kinder vermissten eigentlich nur den Raben auf ihrer Schulter, welcher uns unheilvoll aus leeren Augenhöhlen anstarrte.

Mehr wussten wir von der Frau nicht, deren Stimme wir nie hörten. Der einzige uns bekannte und vetraute Laut ihrerseits, war der schwere, durchs Kettenrauchen bedingte, Husten, welcher sie regelmäßig in heftigen Attacken überfiel.
Dies waren die einzigen Momente, in denen sie menschliche Züge annahm. Sie hielt in ihren langsamen, roboterhaften Bewegungen inne, die Augen röteten sich, an den Händen traten die Knöchel sowie blaue Adern hervor und je nach Länge der Hustenattacke, färbte sich sogar ihr Gesicht.
Die omnipräsente Kippe freilich, nahm sie nur bei den heftigsten dieser Attacken aus dem Mundwinkel.

Nach dem Abklingen dieser Attacken nahmen die nikotingelben Hände ihre Arbeit wieder auf und sie verteilte weiter völlig überkochtes Essen. So hätte man sich eigentlich darüber amüsieren können, dass die Schulköchin den Namen Nachschlag trug, doch einen Nachschlag holte sich nie jemand ab.
Mittwochs war Pizza-Tag, ein Tag, der eigentlich im Kalender eines jeden Kindes rot angestrichen und mit großer Vorfreude verbunden sein müsste.
Nicht so bei uns, denn Frau Nachschlag vermochte selbst aus einer Pizza etwas breiiges zu gestalten.
So wurde die Pizza nicht in Stücken auf die Teller verteilt, sondern mit einer etwas flacheren Suppenkelle auf diese geklatscht. Man musste sich bemühen, den Teller möglichst vorsichtig und gerade zum Tisch zu bugsieren, da der Inhalt nicht herunterrutschte, sondern erst in Tropfen, dann als großer Klumpen herunterschwapte. Im besten Falle rann das Zeug dann selbständig in einen Abfluß.

Sie war ein irgendwie lebendes Klischee, wie es von Hollywood in Horrorfilmen nicht besser hätte bedient werden können. Manche Dinge bedürfen nicht der Erfindung, da die Phantasie mitunter von einer heiser und ausgeflippt lachenden Realität überholt wird. Selbst bei ihrem Tode war dies so.

Sie habe, mittlerweile 60jährig, doch rauchend wie eh und je, vormittags an einem Schultag in der Schulküche einen Herzinfarkt erlitten und sei vornüber auf den Herd gesunken.
Dort habe sich erst ihre Schürze entzündet, daraufhin die Küche und schließlich stand die ganze Schule in Flammen.
Die Kinder freuten sich über den unerwartet kurzen Tag, während die Feuerwehr gegen die Flammen kämpfte und schließlich den verkohlten Leichnam von Frau Nachschlag heraustrug.

Es ist schwer zu sagen, wo Frau Nachschlag fortan ihr kettenrauchendes Unwesen treibt.
Vielleicht sorgt sie bei der Essensausgabe im himmlischen Paradies mit verkochtem Manna für einigen Unmut, während sie selbst, erstmals lächelnd, sich an einer nie verglimmenden Zigarette erfreut.
Vielleicht vermag sie es aber auch in der Hölle, wo ja eigentlich alles knusprig und kross sein sollte, eine auf wundersame Art und Weise beinahe flüssige und lapprige Pizza Hawaii an die dortigen ew´gen Mühlentreter zu verteilen.

Oder, da Himmel und Hölle ja mit hoher Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlich sind, die Erde dort zu qualmen beginnt, wo auch immer sie begraben liegt.
Dieser Ort wird dann zu einer Art Pilgerstätte, zu einem Lourdes für alle Raucher, welche in ihrem tagtäglichen Kampf gegen das erstarkende Nichtrauchertum ihrerseits einer seelischen Stärkung bedürfen.

Memento mori!
In Gedenken
© Singularis Porcus




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